Kleine Ursache mit verheerender Wirkung

aus dem Buch: "Natur- und Brand katastrophen", erschienen im Tosa-Verlag, Wien

Im Jahr 1871 war Chicago, am Südufer des Michigansees gelegen, eine aufblühende Stadt. Mit ihr verband sich für viele Einwanderer im 19.Jahrhundert der Traum von der "Neuen Welt". Das einstige Dorf mit 4000 Einwohnern hatte sich innerhalb von 30 Jahren in eine Metropole verwandelt, die über 300 000 Menschen beheimatete. In nur 27 Stunden machte ein verheerendes Feuer die Stadt und die Träume von Zehntausenden zunichte.

Chicago ist im Herbst des Jahres 1871 eine der aufstrebenden Metropolen Nordamerikas. Getreidehandel, die Börse, aber auch der Eisenbahn- und Landmaschinenbau haben die Stadt groß gemacht. Ein Hauch von großbürgerlichem Luxus zeigt sich im dicht besiedelten Zentrum, wo sich Geschäftshäuser, Banken und Theater aneinanderreihten.

Die Katastrophe vom 8. Oktober nimmt ihren Anfang im Südwesten Chicagos, wo die meisten Häuser aus Holz gefertigt sind. Gegen 9.00 Uhr abends bricht im Stall der Familie O`Leary Feuer aus. Obwohl die Ursache des Brands bis heute nicht geklärt ist, hält sich hartnäckig die Version, daß die Kuh der O`Learys eine brennende Kerosinlampe umgestoßen hat, die wiederum auf dem Boden herumliegende Holzspäne in Brand setzt. Was auch immer geschehen ist, der Stall in der DeKoven Street 137 steht schnell in Flammen. Die Hitze steigt unter das Dach und reißt ein Loch in die Holzbretter, ein aufkommender Südwestwind beschleunigt die Ausbreitung des Brandes. Schnell stehen auch benachbarte Gebäude in Flammen, das Feuer erreicht in Windeseile den nächsten Häuserblock. So frisst sich das Feuer Haus um Haus, Straßenzug um Straßenzug voran.

Die DeKoven Street liegt in einem der ärmeren Stadtviertel, das der Chicago River vom neuen Geschäftszentrum mit seinen marmorverkleideten Häusern trennt. Niemand rechnet damit, daß der Brand das Zentrum auf der andern Flussseite erreichen könnte. Doch es hat wochenlang nicht geregnet, die Stadt ist geradezu ausgetrocknet. Dazu kommt, daß Holz in Chicago aufgrund der Nähe zu den großen kanadischen Wäldern der vorherrschende Baustoff ist. Nicht nur die Häuser in den ärmeren Stadtteilen sind aus dem brennbaren Material gefertigt, auch die Brücken über den Chicago River und viele der Gehwege bestehen daraus. Als die Feuerwehr der Little Giant Company Nr 6 in der DeKovenStreet eintrifft, brennt hier schon ein ganzer Straßenzug. Die kleine Feuerwehr- mannschaft kann gegen die Flammen, die immer wieder aufs Neue vom Wind angefacht werden, kaum etwas ausrichten. Einige falsch weitergeleitete Brandmeldungen in der Hauptzentrale tun ein übriges, den Lauf der Katastrophe zu beschleunigen. Es ist allerdings nicht anzunehmen, daß selbst ein rascher Einsatz aller zur verfügung stehender Löschfahrzeuge das schnelle Umsichgreifen der Flammen verhindert hätte. Der Brand ist längst außer Kontrolle geraten.

Mittlerweile gibt es drei akute Brandherde zu verzeichnen. Rasch breitet sich das Feuer bis zum Fluss aus. Und als wäre die Katastrophe noch nich perfekt, weht der Wind gegen Mitternacht ein brennendes Brett über das Wasser des Chicago River ans gegenüberliegende Ufer, wo weitere Gebäude in Brand gesetzt werden. die trockenen Holzdächer der Häuser sind willkommene Opfer der Flammen. Mit unglaublicher Geschwindigkeit frisst sich das Feuer durch die Häuserreihen. In der Hitze, die dabei entsteht, zerfällt selbst Marmor. Durch die beherzte Aktion eines Feuerwehrhauptmanns, der das Gas aus zwei Tanks des Gaswerks kurzerhand in einen nördlich gelegenen Speicher umleitet, kann zumindest eine gewaltige Explosion verhindert werden.

Das Feuer hat das Zentrum längst erreicht. Hier befindet sich das Geschäftsviertel mit Banken, Theatern und der Oper. Die Gebäude stehen dicht an dicht, was die Ausbreitung der Flammen noch begünstigt. Die als feuersicher geltende "First National Bank" wird ihrem Ruf zwar gerecht, doch die Eisenträger im Innern wölben sich aufgrund der großen Hitze nach oben und durchstoßen die Decke. In der Stadt tobt ein Inferno. Asche fällt wie Schnee vom Himmel, brennende Holzscheite wirbeln durch die Luft und über allem hängt ein gespenstischer Feuerschein. Selbst das Wasserwerk kann den Flammen nicht standhalten. Erst der See im Nordosten der Stadt stoppt das Feuer, das sich bis zu seinen Ufern ausgebreitet hat.

Über 90 000 Einwohner Chicagos werden in dieser Nacht obdachlos. 80 Bürogebäude, 170 Fabriken, 39 Kirchen, 28 Hotels, 39 Banken, sechs Bahnhöfe, neun Theater, 21 öffentliche Gebäude und 1600 Geschäfte fallen den Flammen zum Opfer, der geschätzte Sachschaden beläuft sich auf 196 Millionen Dollar. 54 amerikanische Brandversicherungen gehen infolge des Infernos bankrott.

Keiner weiß, wie viele Menschen in dieser Nacht und am darauffolgenden Tag witrklich sterben. Ihre Zahl wird auf 250 bis 300 geschätzt, was in Anbetracht des Ausmaßes der Katastrophe erstaunlich gering ist. Noch etwas ist erstaunlich. Ein Gebäude nämlich bleibt von den Flammen verschont: Das an den Stall der O`Learys angrenzende Wohnhaus übersteht die Feuersbrunst wie durch ein Wunder nahezu unbeschadet.

  FEUERSBRÜNSTE
Kupferstich

Brände, die von Haus zu Haus übergehen, bezeichnet man als "Feuersbrünste". Oft vernichten sie ganze Städte - wie in Chicago 1871 der Fall - oder große Gebiete bzw. Flächen. Stehen erst einmal komplette Straßenzüge in Flammen, haben die vom Feuer Eingeschlossenen kaum eine Chance, dem Inferno zu entkommen. Meterhohe Flammen, starke Rauchentwicklung, und große Hitze erschweren die Flucht. Aber auch der nachstömende Wind der die Flammen mit Sauerstoff versorgt, kann Windgeschwindigkeiten bis zu Orkanstärke erreichen, der alles mit sich reißt was sich ihm in den Weg stellt.

Nicht alle Feuersbrünste werden durch menschliche Fahrlässigkeit verursacht. In San Francisco Beispielsweise war das gewaltige Erdbeben von 1906 der Auslöser für den nachfolgenden Feuersturm. Die Brände konnten sich deshalb so schnell ausbreiten, weil nicht genügend Wasser zum Löschen vorhanden war. Im Zweiten Weltkrieg wurden in Deutschland über vielen Großstädten systematisch Brandbomben abgeworfen, die riesige Flächenbrände verursachten. Dabei kamen zum Beispiel 1943 allein in Hamburg 100 000 Menschen ums Leben.

Heutzutage kommt es dank strenger Brandschutzmaßnahmen und moderner Brandbekämpfung nur noch selten zu großen Feuersbrünsten. Dennoch können nach wie vor Konstruktionsfehler in der Archetektur schuld daran sein, daß bei einzelnen Brandkatastrophen viele Opfer zu beklagen sind, weil sich die Betroffenen nicht aus den brennenden Häusern retten können.